War Edith Ruß überzeugte Nationalsozialistin, nur weil sie als NS-Propagandistin Adolf Hitler für seine Führung dankte, den Einmarsch der Wehrmacht in Paris feierte, zum Heldentod an der Front aufrief, im Krieg um das „Volkstum“ eine heilige Aufgabe des deutschen Volkes sah, Aufrufe zum Völkermord verbreitete und das „germanische Erbteil“ der blauäugigen Kinder preiste? Nein, sagt die Historikerin Mareike Witkowski. Dafür gebe es „keine Belege“.
Mareike Witkowski hat zusammen mit Joachim Tautz das Gutachten zu Edith Ruß‘ Wirken im Nationalsozalismus verfasst. Im Interview warnt sie vor „Schwarz-Weiß-Erklärungen“ und davor, Edith Ruß zu „dämonisieren“. Es gebe „keine Belge“ dafür, dass sie überzeugte Nationalsozialistin war. Damals seien „die wenigsten“ an vorderster Front mitmarschiert – die meisten Menschen hätten geschaut, dass sie irgendwie durchkommen, so auch Ruß. Es sei „problematisch und wohlfeil“, ihr überhaupt vorzuwerfen, dass sie für eine NSDAP-Zeitung gearbeitet hat und Witkowski kritisiert, „mit der Brille unserer heutigen Wertmaßstäbe auf Edith Ruß zu schauen“. Ruß‘ Artikel besäßen „einen leichten Emotionalen Überschuss“, das sei aber keineswegs Fanatismus.
Für den nötigen Kontext wurde dem Interview eine Auswahl an Zitaten von Ruß beigefügt.
Aljoscha Hoepfner: Was genau waren die Aufgaben von Ruß als Leiterin des Feuilletons bei der Oldenburgischen Staatszeitung?
Mareike Witkowski: Sie schrieb zunächst einmal eigene Beiträge. Diese haben wir aufgelistet und so gut wie möglich den politischen Gehalt eingeordnet. Als Historikerinnen und Historiker sind wir immer auf das Vorhandensein von Quellen angewiesen. Von der Oldenburgischen Staatszeitung sind jedoch leider keine Unterlagen aufbewahrt worden. Daher können wir zu den Abläufen und der Arbeitsteilung in der Redaktion nichts sagen. In ihrem Arbeitszeugnis ist vermerkt, dass sie auch am Umbruch von Bezirksbeiträgen beteiligt war. Das hat im Grunde genommen nicht anders funktioniert als bei heutigen regionalen Zeitungen. Diese erhalten Beiträge, die überregional geschrieben wurden. Die Artikel gehen dann nicht nur an eine Zeitung, sondern an viele. Edith Ruß hat vermutlich die Aufgabe gehabt, zu überprüfen, wie diese sich in den Satz der Oldenburgischen Staatszeitung einpassen ließen, wo gekürzt werden musste und ähnliches. Sie hat darüber hinaus auch Artikel von anderen Redakteuren redigiert.
Sie haben sich in dem Gutachten nur auf das beschränkt, was Ruß selber geschrieben hat und nicht das, was sie vielleicht redigiert hat oder wofür sie in anderer Weise mitverantwortlich war, einbezogen.
Genau, weil uns dazu keine Quellen vorliegen. Wir haben uns natürlich den Kontext angeschaut. Wie war die damalige Situation von Frauen im Journalismus? Frauen wurden in den Bereichen eingesetzt, die ihnen als „wesensgemäß“ zugeschrieben wurden. Sie schrieben über so genannte Frauenthemen und über kulturelle Veranstaltungen. Edith Ruß passt mit ihren vielen Artikeln aus dem Bereich Kino also in das Bild. Die Wahrscheinlichkeit, dass man sie überhaupt für die Titelseite einen Beitrag hätte schreiben lassen, halte ich für sehr gering. Ihre Beiträge erschienen in einer Zeitung, in der sich viele hetzerische, antisemitische und rassistische Artikel befanden. Ihre Artikel sind dagegen „unpolitischer“ als der Rest. Es lassen sich jedoch auch bei ihr Anklänge finden, die die NS-Propaganda bedienten.
„Ueberwältigend, scheint uns die Größe dieser Stunde, die uns die Führung Adolf Hitlers bereitet hat. Die Spannung der vorausgegangenen Stunden löst sich in einem einzigen Dank an ihn und an unsere prächtigen Soldaten. Wir tragen die Gewißheit ihres Sieges als heiliges Gefühl in unserem Herzen.“
Edith Ruß
Kann man ihre Artikel getrennt von dem, was sonst in der Zeitung stand, betrachten?
Die Beiträge von Edith Ruß sind in einem diktatorischen System publiziert worden. Die vermeintlich unpolitische Kino-Rezension suggerierte Alltag und Normalität und trug somit zur Stabilisierung des Systems bei. Insofern trug auch Edith Ruß zur Stabilisierung des Systems bei. Das kann man natürlich vielen Menschen vorwerfen.
Und wie würden Sie Ruß‘ Stellung allgemein im Propagandaapparat…
Das war eine untergeordnete Stellung, die sie inne hatte.
…der Nazis bewerten?
Edith Ruß nahm eine untergeordnete Stellung ein. Soweit wir das sehen können, hat sie keine politischen Entscheidungen in irgendeiner Form getroffen. Sie ist mit dem Auftrag, einen Bericht darüber zu schreiben, zu Kinofilmen und Theaterstücken geschickt worden und hat das Ensemble auch auf Reisen begleitet. Ihr Einfluss war begrenzt und lässt sich auf einer untergeordneten Ebene einordnen.
„Wenn die Führung des deutschen Volkes die Menschen der besetzten Westgebiete und die der ehemals polnischen Gebiete im Osten, soweit diese Menschen deutschen Ursprungs sind, für unsere Ziele gewinnen will, so kann das nur geschehen […] indem man das gute Beispiel für sich selber sprechen läßt.“
Edith Ruß
Gab es im Oldenburger Raum eine andere Person, die einen vergleichbaren Einfluss oder Meinungsmacht im kulturellen Bereich hatte, als Leiterin des Feuilletons?
Schaut man in den Feuilleton, dann haben dort natürlich auch noch etliche andere geschrieben, fast ausschließlich Männer. Wir haben 126 Beiträge von Edith Ruß gefunden; sie schreibt manchmal alle paar Tage einen Beitrag, manchmal liegen auch Wochen zwischen ihren Artikeln.
Wie bewerten Sie Ruß‘ Wirken im Nationalsozialismus?
Edith Ruß war eine Mitläuferin auf einer untergeordneten Ebene. Wie schon gesagt, jeder Beitrag, der Alltag suggerierte, trug zur Stabilität des Systems bei. Darüber hinaus hat sie sich der NS-Propaganda angepasst und auch Beiträge mit entsprechendem Gedankengut geschrieben. Auf diese sind wir im Gutachten ausführlich eingegangen. Sie hat allerdings – das muss man deutlich sagen – an keiner Stelle antisemitisches Gedankengut formuliert. Und – hier bewege ich mich aber auf unsicherem Eis – es gibt schon etliche Beiträge von ihr, bei denen sie nur einen kleinen Schlenker hätte machen müssen, um auch noch antisemitisches Gedankengut unterzubringen, was sie aber nicht tut. Sie hat beispielsweise einen langen Bericht über Heinrich George geschrieben und verweist darin auf die Filme, die weniger politisch oder vermeintlich ganz unpolitisch waren, und äußert sich beispielsweise nicht zum Film „Jud Süß“. In ihrem Bericht über den Juister Maler Fritz Hafner, der auch bei der so genannten Großen Deutschen Kunstausstellung ausgestellt wurde, schrieb sie allein von seinen Blumenbildern.
„Wenn man diese Verhältnisse betrachtet, wird einem erst das wahrhaft Große und Einmalige klar, das der Nationalsozialismus erreicht hat, indem er dem Bauern wieder Ehre und Ansehen verlieh.“
Edith Ruß
Würden Sie es als entlastend bewerten, dass sie das nicht gemacht hat?
Ausgehend von dem, was wir wissen, bleibe ich dabei, Edith Ruß auf der Ebene der Mitläufer und Mitläuferinnen einzuordnen. Wir haben leider keine Ego-Dokumente von ihr, die uns weitere Aufschlüsse geben könnten. Wir können auch nicht in ihren Kopf reingucken und konnten das niemals. Und wenn sie nichts aufgeschrieben hat oder es woanders dokumentiert ist, sind wir im Bereich der Spekulation. Vielleicht war sie begeistert von dem, was um sie herum passierte, vielleicht hat sie versucht, möglichst sachlich die Filme darzustellen, um sich nicht politisch zu äußern. Wir wissen es nicht, und alle Überlegungen dazu sind Spekulationen.
„Wir stehen in einer großen Zeit. Das große Beispiel lehrt uns, klar zu sehen. Der Krieg wird getragen vom Idealismus junger Herzen, von dem Mut, der Tapferkeit, der weitschauenden Voraussicht deutscher Männer.“
Edith Ruß
Würde das in Ihrer Bewertung einen Unterschied machen, wenn sie jetzt zum einen NS-Propaganda verbreitet hat und davon überzeugt war oder zum anderen NS-Propaganda verbreitet hat und insgeheim Bauchschmerzen hatte?
Ja, das würde für mich einen Unterschied machen. Unser Anspruch bei der Erforschung von Biografien für die Beurteilung einer Person war immer, so konkret wie möglich zu schauen, was die Person gemacht hat, wie sie handelte, schrieb etc. Im Fall von Edith Ruß können wir uns nur auf die überlieferten Quellen stützen, die uns Einblicke in ihre publizierten Texte geben.
„Deutsche Soldaten haben das Buch der Geschichte um ein neues unvergängliches Ruhmesblatt bereichert, sie haben eine Tat vollbracht, von der noch Kinder und Kindeskinder Künder sein werden.“
Edith Ruß
Würden sie sagen, dass man das aufgrund dieser ganzen Artikel in NS-Zeitungen nicht eindeutig bewerten kann?
Ich glaube nicht an Schwarz-Weiß-Erklärungen oder einfache Deutungen. Edith Ruß ist als junge Frau in den Journalismus eingestiegen und sie musste ihren Lebensunterhalt alleine verdienen. Sie unterlag – wie jeder Mensch – bestimmten Rahmenbedingungen, die sich aus der familiären Herkunft, den Lebensumständen und den Gegebenheiten der Zeit ergaben. Es geht dabei nicht darum, irgendetwas zu entschuldigen, sondern zu erkennen, dass das Leben selten in klare Kategorien wie „Täter“ oder „Opfer“ passt. Die wenigsten waren Widerständler oder – das waren sicher mehr – sind an vorderster Front mitmarschiert. Die meisten Menschen lassen sich zwischen den beiden Polen ansiedeln und jeder schaut, dass er irgendwie durchkommt. Das lässt sich auch für Edith Ruß so sagen.
„Schlag auf Schlag folgen nun die wenigen markanten Sätze, die diesen Tag zu einem Tag des unbändigen Stolzes und der stolzesten Freude machen sollen. Paris ist gefallen. Der Feind des Reiches ist an seiner verwundbarsten Stelle getroffen. Das deutsche Schwert schlug zu und traf mitten in Frankreichs Herz. […] Ueber Frankreichs Hauptstadt weht das Hakenkreuzbanner und die Reichskriegsflagge, Symbole von Deutschlands Macht und Größe.“
Edith Ruß
Aber sie ist ja schon sehr gut da durchgekommen, oder? Als Schriftleiterin hatte sie einen, vor allem für die Zeit, relativ entspannten Job.
Das können wir nicht sagen, weil wir nichts über ihren Arbeitsalltag wissen. Übrigens hatte die Position der Schriftleiterin nichts mit einer Leitungsfunktion im modernen Sinne zu tun. Es war schlicht der zeitgenössische Begriff für Journalistin.
Sie beschreiben Ruß an keiner Stelle in dem Gutachten als Nationalsozialistin oder Propagandistin. Das hat mich ein bisschen überrascht.
Sie hat sich sehr wohl in die NS-Propaganda eingepasst.
Würden Sie Ruß als Nationalsozialistin beschreiben?
Da würde ich jetzt nachfragen wollen: Was meinen sie mit Nationalsozialistin? Wenn Sie das an der Parteimitgliedschaft festmachen, dann war sie Nationalsozialistin. Ich kann aber keine Anhaltspunkte dafür finden, dass sie – wie dies zu lesen war – eine „fanatische Nationalsozialistin“ gewesen sein soll. Dazu würde meiner Meinung nach mehr gehören als die reine Parteimitgliedschaft.
„Wir können dem Vernichtungsangriff des Feindes auch damit begegnen, daß wir den Blick hinwenden auf die ewigen Werte deutscher Kunst. Das stärkt unsern Glauben an unsere Aufgabe als Deutsche in der Welt, das vergrößert unseren Abwehrwillen gegen alles, was uns auslöschen will aus dem Buch der Geschichte. Deutsch sein, heißt eine Verpflichtung in sich tragen, und neben der staatsbildenden Kraft, die es sich zu erhalten gilt, die Kraft des Geistes und der Kunst lebendig halten.“
Edith Ruß
Was würde für Sie eine fanatische Nationalsozialistin ausmachen?
Ich wäre vorsichtig mit dem Vokabular. Wenn wir Edith Ruß als „fanatische Nationalsozialistin“ bezeichnen, welche Begriffe haben wir dann noch für Personen, die es wirklich waren, für Personen, die sich Verbrechen haben zuschulden kommen lassen? Was ist mit den Personen, die noch in den letzten Kriegstagen Jugendliche in den Kampf geschickt haben? Wenn wir Edith Ruß als fanatische Nationalsozialistin bezeichnen, dann gehen uns die Verhältnisse verloren, dann war der größte Teil „fanatisch“ und damit verliert der Begriff seine Schärfe. Nach all dem, was ich von ihr gelesen habe, was ich an Akten gesehen habe, würde ich sie nicht als fanatische Nationalsozialistin bezeichnen. Es gab etliche Frauen, die das System noch mal in ganz anderer Weise mitgetragen haben.
„Ich will heute den einen [Gedanken] herausgreifen, der wie eine Brücke Anfang und Ende des Buchs miteinander verbindet, den Gedanken vom Tod fürs Vaterland. […] Zwanzig Jahre wurde er alt. Das ist eine kurze Spanne Zeit, an Jahren gemessen, und sie birgt doch die Erfüllung eines Menschenlebens. […] Aber [die Mutter] war nun ganz ruhig. Sie wußte, es gäbe Schlimmeres für [ihren Sohn] als den Tod. […] Sie wußte jetzt, dieser Tod war eine heilige Sache. Ich glaube, die Dichterin will sogar sagen: er kam nicht einmal zu früh. Dieses Leben war in sich vollendet. Und hätte Christoph noch einmal die Wahl gehabt, er würde wieder bedingungslos dem Vaterland gedient haben, auch um den Preis des eigenen Lebens. […] Welch tröstliche Gewißheit! Und habe ich nicht recht zu sagen, daß dieses Schicksal für viele steht? Gerade heute!“
Edith Ruß
War sie Propagandistin?
Auch diese Frage ist nicht ganz einfach zu beantworten, weil man zunächst einmal klären müsste, was eine Propagandistin ausmachte. Reicht es schon, für eine NS-Zeitung zu schreiben? Beantwortet man dies mit „ja“, dann müsste man sie als Propagandistin bezeichnen. Edith Ruß stand aber auf keiner Bühne, sie hat keine öffentliche Rede gehalten und sich auch nicht in einer der NS-Organisationen engagiert.
„Es war ein besonders guter Einfall der Gaupropagandaleitung, den bombengeschädigten Volksgenossen, die in Oldenburg ansässig sind, dieses Sonderkonzert zu bieten […].“
Edith Ruß
Für mögliche Gründe für ihren Parteiantritt spekulieren Sie nur darüber, dass sie sich vielleicht bessere Karrierechancen erhofft hat. Dass Ruß einfach überzeugte Nationalsozialistin war…
Dafür haben wir keine Belege.
… sein könnte, das kommt nicht im Gutachten vor.
Es gibt dazu keine Quellen von ihr.
Am unteren Rande des Wandgemäldes hat der Künstler — gleichsam als Symbol — Vertreter unseres neuen Menschentums aufmarschieren lassen, Hitler-Jugend, Arbeitsdienstmänner, Soldaten.
Edith Ruß
Haben Sie Belege dafür, dass sie das wegen der Karrierechancen gemacht hat?
Da ist nur ein zeitlicher Zusammenhang erkennbar. Sie beantragt im November 1940 die Mitgliedschaft in der NSDAP. Zu diesem Zeitpunkt hat sie gerade ihr Volontariat bei den Oldenburger Nachrichten beendet und scheint keine Anschlussbeschäftigung im Journalismus gefunden zu haben. Daher arbeitete sie für ein Jahr bei Eugen Dugend, dem Präsidenten des Oberverwaltungsgerichts als Sekretärin, bevor ihr dann der Einstieg als Redakteurin bei der Frauenzeitschrift „Hella“ in Berlin gelingt. Es wäre natürlich sehr viel einfacher, wenn es einen Brief geben würde, in dem sie schreibt „ich finde diese Bewegung so toll, dass ich jetzt beitrete“, aber den gibt es nicht.
„Sie hatten den Glauben an das Reich. Das war wie ein heiliges Symbol, und es stand für alles, was unsern Menschen Würde und Adel, unserm Namen Glanz und Kraft verleiht. Ueber die von Zerrbildern erfüllte Nachkriegszeit retteten sie den Glauben an das Volkstum.“
Edith Ruß
Sie meinen, auch aus ihren Taten und aus ihrem Wirken, aus ihrer Arbeit für mehrere NSDAP-Blätter, kann man sich das nicht erschließen?
Na ja, welche Zeitung war zu diesem Zeitpunkt nicht in irgendeiner Form nationalsozialistisch getragen? Insofern hätte sie dann gar nicht für die Presse arbeiten dürfen. Dies aus einer heutigen Perspektive zu fordern, finde ich problematisch und wohlfeil. Was wäre denn eine unpolitische Arbeit gewesen?
„Kein Beruf – darüber sind wir uns einig – ist für die Frau von so großer Bedeutung wie der der Hausfrau.“
Edith Ruß
Sie hat im Grunde allen anderen Frauen nahegelegt, Hausfrau zu werden.
Ja, aber das muss aus der Zeit heraus und nicht von heute aus beurteilt werden. Vermutlich hätte eine sehr große Mehrheit aller Frauen dies so gesehen. Das war kein Frauenbild, das den Frauen aufoktroyiert wurde, das wurde von einem Großteil der Frauen so getragen. Im damals vorherrschenden Geschlechterverhältnis waren Frauen auf die Rolle der Hausfrau und Mutter festgelegt. Das war noch bis in die 1960er Jahre das vorherrschende Frauenbild. Hier gibt Edith Ruß nur das wieder, was gedankliches Allgemeingut der Zeit war.
Sie zitieren Ruß‘ Artikel zum Einmarsch in Paris und schreiben dann: „Es lässt sich kein weiterer Artikel von Edith Ruß finden, in dem sie sich so eindeutig hinter das NS Regime stellt.“
Ja.
Gibt es keine weiteren Artikel, in denen ihre Zustimmung zum NS-Regime eindeutig zu erkennen ist?
Es gibt keinen Artikel, der so eindeutig ist wie dieser.
„Am Nachmittag des 24. hörten wir schöne, alte und neue Weihnachtslieder, hörten die schöne dunkle Stimme eines Sängers, der so stark, so innig sang : Nun schweige ein jeder von seinem Leid / und noch so großer Not. / Sind wir nicht alle zum Opfer bereit / und zu dem Tod? / Eines steht groß in den Himmel gebrannt : / Alles darf untergehn. / Deutschland unser Kinder- und Vaterland, / Deutschland muß bestehen. Auf diesen Ton gestimmt war auch die Weihnachtsansprache unseres Dr. Goebbels, die um 21 Uhr über alle Sender ging.“
Edith Ruß
Ich erinnere mich an mindestens zwei Artikel, wo sie von „unserem Dr. Goebbels“ redet.
Alle Artikel von Edith Ruß haben – ich möchte es mal so nennen – einen leichten emotionalen Überschuss. „Unser Dr. Goebbels“ könnte eine Vereinnahmung implizieren oder ein Sich-Einreihen von Edith Ruß. Daraus lässt sich aber wenig ziehen. Schaut man sich an, wie die Berichte weitergingen, dann bleibt sie fast immer auf der Ebene der Wiedergabe von beispielsweise dem in Reden Gesagten.
Sie haben geschrieben, und haben jetzt auch öfter gesagt, dass Edith Ruß sich nur sehr, sehr selten zur politischen Lage geäußert hätte und, dass es nur wenige Stellen gibt, wo ihre Zustimmung zu dem NS-Regime erkennbar sei. Allgemeinen zitieren Sie in dem Gutachten sehr wenige ihrer Textstellen. Sind nicht alle Artikel, die für eine NSDAP-Propagandazeitung geschrieben werden, Ausdruck einer Unterstützung des Systems?
Die Zitate aus den Artikeln von ihr, die ja schon im Umlauf sind, müsste man sich noch mal genau vornehmen. Schaut man sich die Beiträge von Edith Ruß genau an, dann stellt man fest, dass sie viel wiedergibt, beispielsweise auch die ideologischen Inhalte eines Films. Daraus kann ich aber nicht den einfachen Schluss ziehen, dass das auch ihre Anschauung war. Hier fehlt es uns einfach an Quellen, vor allem an Ego-Dokumenten, die eindeutige Schlüsse auf ihre Haltung und ihr Gedankengut zulassen. Bei der Zeitung in diesem Umfeld zu arbeiten, war aber natürlich eine aktive Entscheidung von ihr.
„Wir glauben an ein hohes Ideal, an unsere Zukunft, unser Volk und Reich.“
Edith Ruß
Kann man bei keiner Person, ungeachtet ihrer Taten, genau bewerten, wie sie zum Nationalsozialismus gestanden hat, wenn man keine Ego-Dokumente hat?
Wir kennen ja das, was sie geschrieben hat und haben versucht, soweit dies ging, dies auszuwerten und einzuordnen und deutlich zu sagen, an welcher Stelle wir nationalistisches Gedankengut erkennen, wo sie sich positiv auf die nationalsozialistische Ideologie bezieht. Dabei sieht man auch, dass ihre Artikel weniger hetzerisch sind und kein antisemitisches Gedankengut enthalten.
Genau, Sie schreiben: „antisemitisches oder rassistisches Gedankengut lässt sich in ihren Beiträgen nicht finden.“ Wie kommen Sie zu dieser Einschätzung?
Wir finden in ihren Artikeln weder direkt formuliert noch auf indirekte Art und Weise klar antisemitisches oder rassistisches Gedankengut. Sie hebt sich damit tatsächlich auch von den anderen Beiträgen in der Oldenburgischen Staatszeitung ab.
„Die bunte Tierwelt Afrikas zum erstenmal dicht vor dem Auge der Kamera. […] Im Urwald blieben sie mehrere Monate bei den Pygmäen, jener Negerrarasse, die wegen ihres Zwergwuchses bekannt ist.“
Edith Ruß
Gleichzeitig schreiben Sie, dass sich bei ihr völkisches Gedankengut findet. Aber ist das nicht ein fundamentaler Widerspruch zu sagen: „Ja, sie verbreitet völkisches Gedankengut, aber kein rassistisches und antisemitisches Gedankengut“?
Völkisch meint in diesem Fall, dass sie sich positiv auf das deutsche Volk als Gemeinschaft bezieht. Sie benennt aber weder diejenigen, die ausgeschlossen werden sollen, noch formuliert sie Gedanken von einer „rassischen Überlegenheit“. Einzig der Artikel von der Einnahme von Paris geht in diese Richtung, aber den habe ich im Gutachten ausführlich behandelt.
„Das neue Deutschland hat seinen künstlerisch entschiedensten Ausdruck in den Werken der Architektur und Plastik gefunden. In ihnen spiegelt sich der Lebenswille einer Generation von Kämpfern. […] Partei und Wehrmacht (für den Innenhof der Neuen Reichskanzlei), Der Wächter, Der Rächer, das mächtige Relief der „Kameradschaft„, das ist eine Auswahl aus seinen Werken. […] Seine Werke sind ohne Kompromiß wie der Wille, der das neue Deutschland beseelt, und sie würden auch demjenigen, der nichts von der Wehrhaftigkeit, dem sozialen und politischen Willen des Reiches wüßte, ein lebendiges Abbild unserer gegenwärtigen Zeit vermitteln — auf dem Weg über das Künstlerische.“
Edith Ruß
Ruß schreibt in einem Artikel über Ostfriesland: „Doch das ist sicher. Immer noch steht oben im Nordseegau ein prächtiger Menschenschlag auf der Wacht, der in trotzigem Stolz sein germanisches Erbteil hütet. Noch immer wachsen blauäugige Friesenkinder heran […].“ Wie ist das nicht rassistisch?
Hier bezieht sie sich in einem völkischen Sinn positiv auf das deutsche Volk.
Aber das ist nicht rassistisch?
Wären für Sie die blauen Augen rassistisch?
Ich würde vor allem sagen, der Teil mit dem germanischen Erbteil, der explizit in dem Kontext auch Juden ausschließt, oder?
Ja, aber sie schreibt nichts zu den Juden.
Sie sehen keinen eindeutigen Rassismus?
Ich sehe in den ausgewerteten Texten von Edith Ruß keinen Antisemitismus und keinen eindeutigen Rassismus.
Auch nicht indirekt?
Nein.
„Darum lag [dem schlesischen Maler] auch alles Norddeutsche und darüber hinaus das Holländische, das Flämische so nahe, weil er in ihm den verwandten Blutschlag spürte.“
Edith Ruß
Edith Ruß zitiert zustimmend eine Rede in der es heißt: „Wir Deutschen erleben heute unter der Führung Adolf Hitlers einen Völkerfrühling. Kein Mensch kann gegen Naturgesetze handeln. Wer aber wie der Führer nach den großen Lebensgesetzen seines Volkes handelt, dem gehört das Leben, dem gehört die Zukunft. Die Erde, auf der wir leben, wird im 20. Jahrhundert neu verteilt. Die jungen, aufstrebenden Völker treten an, was alt und morsch ist, ist nicht mehr lebensfähig und muss abtreten.“
Ist das nicht ein…
Ich kann daraus aber nicht ableiten, dass das auch ihr Gedankengut war. Durch die Veröffentlichung des Gesagten befördert sie die NS-Propaganda und stellte sich in den Dienst dieser.
Verbreitet sie hier nicht einen Aufruf zum Völkermord?
Die ganze Zeitung ist durchsetzt von Aufrufen zum Völkermord. Edith Ruß hat für eine Zeitung gearbeitet, in der antisemitische und rassistische Hetze an der Tagesordnung waren. Sie hat in diesem Umfeld ihre Berichte im Feuilleton veröffentlicht und damit einen Beitrag zur Normalisierung und Stabilisierung der Diktatur geleistet. Um zu einem Urteil zu kommen, ob das Edith-Ruß-Haus umbenannt werden soll oder nicht, reicht diese Erkenntnis meiner Meinung nach aus. Ich muss sie nicht dämonisieren und kann dennoch ein kritisches Urteil über sie fällen.
Sie schreiben: „Edith Ruß kann anhand der von ihr überlieferten Artikel weder als fanatische Nationalsozialisten eingeordnet werden, noch hat sie sich ihre Unabhängigkeit bis zum Schluss bewahrt“. Sind diese beiden Einordnungen ihrer Meinung nach im gleichen Maße von der Wahrheit entfernt?
Ja, die Einordnung als „fanatische Nationalsozialistin“ ist genauso wenig zutreffend wie die Vorstellung, sie hätte sich ihre Unabhängigkeit bewahrt. Wie die meisten Menschen ihrer Zeit bewegte sie sich dazwischen.
„In diesem Kriege fiel sein ältester Sohn bei einem Panzervorstoß gegen die Sowjets, der andere steht im harten Kampfe an der italienischen Front. Der [Freiwillige] hat nicht geglaubt, daß man ihn noch einmal brauchen würde. Bis der Führer zur Bildung des Deutschen Volkssturmes aufrief. Da ging er hin und meldete sich. Er vergaß sein Zipperlein und die schwere Müdigkeit, die ihn manchmal nach Betriebsschluß anfällt. Er fühlte sich noch stark genug, seinen Mann zu stehen.
Edith Ruß
Edith Ruß stellt den Nationalsozialismus und den Krieg oft als etwas Religiöses da, sagt, dass es eine heilige Sache ist. Und das finden Sie nicht irgendwie…
Die Idee, dass der Krieg ein kathartischer Moment darstellen kann, den gab es auch schon weit verbreitet im Ersten Weltkrieg. Hier unterscheidet sich Edith Ruß nicht von vielen anderen. Wenn ich es richtig im Kopf habe, dann schreibt sie das aber auch nur an einer einzigen Stelle.
„Der Schreiber steht in einer neuen Ordnung, einer Welt, in der Begriffe, wie: Vaterland, Mut, Gehorsam, Tapferkeit und männliches Aufsichnehmen die Stunde regieren. […] Die deutsche Geschichte hat unzählige Beispiele für sie; von Briefen der Feldherren an ihre obersten Befehlshaber, die von stolzen Siegen berichten, […] aber auch Todesbereitschaft und männliches Ringen mit dem Schicksal aussprechen. Es muß etwas Herrliches sein um die Kameradschaft unter Männern, die sich in ernster Begeisterung für ein hohes Ziel vereint wissen […] Werden diese Briefe noch gar in Zeiten hohen vaterländischer Begeisterung geschrieben, […] so steigert sich der Briefschreiber wohl gar zu idealen Bekenntnissen über Volk und Staat und Vaterland […]. Welche – und sei es die geliebteste – Frau könnte den Abgrund ermessen, der sich auftut, wenn das Leben sich auf seine ursprünglichen Bedingungen zurückgeführt sieht und der Kampf gegen eine Urgewalt beginnt?“
Edith Ruß
Sie schreiben auch, es wäre falsch, Ruß einen Vaterlands-Todeskult und tiefe Frauenfeindlichkeit vorzuwerfen.
Ja, die Zitate sind zumeist aus den Kontext gerissen und zu stark aus einer heutigen Perspektive mit zu geringer Beachtung des damaligen Kontextes beurteilt worden. Beurteilt man Edith Ruß als „Frauenhasserin“, weil sie das damals gängige Rollenbild propagiert hat, dann müsste man vermutlich 99 Prozent der Frauen als „Frauenhasserin“ bezeichnen.
Macht es die Aussage falsch?
Wenn Sie 99 Prozent der Frauen als „Frauenhasserinnen“ bezeichnen wollen, dann wäre die Aussage nicht falsch, aber sie hat keinen Aussagewert mehr. Mit der Brille unserer heutigen Wertmaßstäbe auf Edith Ruß zu schauen und nicht den Kontext zu beachten, würde ich als Historikerin kritisieren. Viel wichtiger wären mir die Fragen, was nimmt sie vom NS-Gedankengut der Zeit auf in ihre Artikel, wo bedient sie sich?
Kann man den Nationalsozialismus in ihren Augen, insbesondere in der Endphase des Zweiten Weltkriegs, nicht als Vaterlands-Todeskult bezeichnen?
Ja, aber mir ist unklar, wohin Sie mit diesem Begriff wollen.
Ist natürlich polemisch.
Ja, aber ich benötige diese Zuschreibung für die Analyse nicht.
Sie meinen, dass die Zitate, die für diese Einschätzung verwendet wurden, aus dem Kontext gerissen wurden. Jetzt war der Kontext ja eine NS-Propagandazeitung.
Ja, das ist der Kontext. Edith Ruß hat die Inhalte der Filme wiedergegeben oder den Ablauf von Konzerten geschildert. Ob das, was dort an Ideologie auf die Leinwand gebracht wurde, auch ihr Gedankengut war oder ob sie nur einen Auftrag erfüllt hat, das wissen wir nicht. Das hat nichts damit zu tun, dass ich Edith Ruß entlasten will. Als Wissenschaftlerin ist es meine Aufgabe, die Lücken und Grenzen unseres Wissens zu benennen. Für eine Einordnung als „fanatische Nationalsozialistin“ fehlen mir die Belege und daher ist das für mich der Bereich der Spekulation.
„Der Kamerad ihm zur Rechten ist gerade 21 Jahre alt geworden. […] Er hörte viel von seinen gleichaltrigen Kameraden draußen, und wünschte sich oft genug, mit dabei sein zu können. Als Hitler-Junge, später dann als Blockhelfer der Partei und als Amtsträger des Reichsluftschutzbundes sprang er überall da ein, wo man ihn brauchte. Aber er wollte sich selbst und den anderen beweisen, daß er noch mehr zu leisten imstande ist. Er war einer der ersten, die sich bei der Ortsgruppe freiwillig zum Volkssturm meldeten.“
Edith Ruß
Sie schreibt auch einige Artikel, die nichts mit Kultur oder Film zu tun haben. Zum Beispiel: „Wer am aber Heiligen Abend seine Gedanken schweifen lies, zu allem, was deutschen Blutes ist auf dieser Welt, dem kam eine Gewissheit an, dass alles, was wir erlitten haben und noch durchstehen müssen, ehe der Sieg unser ist, ein Wille der Vorsehung ist oder des ewigen oder des Göttlichen, ohne das nichts geschieht, und dass wir aus solcher Prüfung rein, stark und groß hervorgehen müssen, damit wir des großen Vaterlandes würdig werden.“
Genau, hier finden sie den Gedanken der Katharsis, die Vorstellung, dass der Krieg für das Volk eine reinigende Wirkung hat und sie bezieht sich positiv auf das Vaterland.
Aber daraus kann man jetzt nicht ihre eigene Geisteshaltung ableiten?
Doch und das habe ich ja auch im Gutachten geschrieben.
Aber Sie meinen ja trotzdem, dass man Edith Ruß jetzt nicht eindeutig als Nationalsozialistin… Also, dass man nicht sagen kann, dass dieses Gedankengut auch ihres war.
Sie hat NS-Propaganda-Gedankengut mit Sicherheit transportiert. Wir müssen Edith Ruß aber nicht als „fanatische Nationalsozialistin“ darstellen und können sie gleichwohl kritisieren. Greift man für sie zu solchen Bezeichnungen, dann verschwinden die Abstufungen zu denjenigen, die Morde und sonstige Verbrechen begangen haben. Dann kommen wir zu einem „alle waren schuldig“ und das wird der Sache nicht gerecht und ist aus meiner Perspektive höchst problematisch. Daher versuche ich so differenziert wie möglich zu argumentieren, ohne sie entschuldigen zu wollen.
Trotzdem zögerte er nicht einen Augenblick, sich freiwillig in die Reihen des Deutschen Volkssturmes einzugliedern. Er hat den Willen zum Unbedingten […] in der Bereitschaft, seine Kräfte einzusetzen, wenn es die Heimat gilt.
Edith Ruß
Mein Verständnisproblem ist, dass ich nicht ganz verstehe, wie man Edith Ruß jetzt nicht eindeutig als Nationalsozialistin bezeichnen kann. Sie war in der NSDAP, sie hat NS-Propaganda verbreitet, sie hat zum Heldentod an der Front aufgerufen, sie hat Adolf Hitler gelobt, sie hat Aufrufe zum Völkermord zitiert, also dann frage ich mich…
Sie war NSDAP-Mitglied und wenn wir das als Kriterium anlegen, dann war sie eine Nationalsozialistin. Ich weiß aber nicht, was sie gedacht hat. Deswegen: Sie war Teil des Systems, sie hat dieses stabilisiert, sie hat es als normal aussehen lassen, sie hat die NS-Propaganda bedient. Das kann ich auf dem sicheren Boden der Quellen sagen.
OK, dann wäre ich mit meinen Fragen zu Edith Ruß durch.
„Volk und Vaterland sind Ideen, die wir so fest in uns einsaugen sollen, bis sie gleichsam wieder als uns in Fleisch und Blut übergegangene Wahrheit in uns weiterwirken.“
Edith Ruß
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