Esoterik und Antisemitismus

Anlässlich der antisemitischen und rechtsextremen Bücher auf der Esoterik-Messe in den Weser-Ems-Hallen beleuchtet Ulrich Mathias Gerr die Verbindungen zwischen Esoterik, Verschwörungsdenken und Antisemitismus. Er ist Lehrbeauftragter an der Universität Oldenburg und Bildungsreferent bei der Kölnischen Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit, wo er sich mit Antisemitismus und Verschwörungstheorien beschäftigt.


Potzblitzchen!: Auf der EinsSein-Messe in den Weser-Ems-Hallen hat ein Aussteller, der Artha Buchdienst, diverse rechtsextreme und antisemitische Bücher verkauft. Überrascht Sie das?

Gerr: Es überrascht mich nicht aber es schockiert mich dann doch, dass diese bekanntermaßen antisemitischen, rechtsextremen und rassistischen Gruppen, wie gerade die Anastasia-Bewegung, dort eine offene Bühne bekommen.

Was genau ist die Anastasia-Bewegung?

Das ist eine völkische Siedlungsbewegung, die sich auf einen aus Russland stammenden Mythos bezieht. Sie versteht sich als eine besondere Gemeinschaft mit einer bestimmten Beziehung zu Natur und Boden und versucht in ländlichen Regionen eigene homogene Gemeinschaften zu gründen. Die Bewegung ist besonders problematisch, weil sie gewisse Gemeinsamkeiten mit grünen und biologischen Vorstellungen hat und Menschen mit diesem Nachhaltigkeitsgedanken ansprechen könnte, die die ideologischen Gehalte vielleicht erst einmal gar nicht erkennen. Dahinter steckt aber ein rassistisches und antisemitisches Weltbild. Es gibt in Niedersachsen zum Beispiel im Wendland einige Siedlungen, die der Anastasia-Bewegung nahestehen.

Artha hatte auch mehrere Bücher von Jan Udo Holey alias „Jan van Helsing“ im Angebot. Wer ist das?

Das ist ein esoterischer, antisemitischer Autor, der schon in den 90er-Jahren sehr erfolgreich war und mittlerweile eine Art kleiner Influencer ist. Sein esoterisches Weltbild und eine ganze Bandbreite von Verschwörungstheorien verbindet er mit Rassismus und Antisemitismus. Dieses Programm verbreitet er in seinen Büchern immer wieder neu. Sein Weltbild ist eindeutig antisemitisch.

Laut Artha-Geschäftsführer Oliver F. waren auf der Messe von 2.000 Büchern nur 20 „problematisch“. Macht das einen Unterschied?

Ich frage mich, warum er diese 20 Bücher toleriert, wenn er darüber so genau Bescheid weiß. Ich würde vermuten, dass weitaus mehr von diesen Büchern zumindest eine Nähe zum Antisemitismus aufweisen. Bei den 20 Büchern war es wahrscheinlich so deutlich, dass man es nicht mehr verleugnen kann. Wenn man sich anguckt, wie antisemitische Theorien codiert werden, indem man ein anderes Wort für „die Juden“ nimmt, das aber eindeutig jüdisch codiert ist, dann wird man sicherlich noch mehr Beispiele finden. Insofern halte ich die Verteidigung zum einen für zweifelhaft und zum anderen für etwas fragwürdig. Selbst wenn es nur 20 Bücher sind, sind das 20 zu viel.

Hat die Esoterik an sich Verbindungen zu Rechtsextremismus und Antisemitismus?

Vielleicht nicht an sich, aber es gibt strukturelle Ähnlichkeiten und Gründe, warum esoterisches Denken zu einem antisemitischen Denken führen kann. Was die Esoterik ausmacht, ist ein Geheimwissen. Das setzt den exklusiven Zugang von einigen wenigen voraus, denen das Wissen offenbart wird oder die sich das mit pseudo-wissenschaftlichen Methoden erarbeitet haben. Dieses Geheimwissen ist entscheidend. Diejenigen, die darüber verfügen, gehören zu einer Art erleuchteten kleinen Gemeinschaft, die sich gegenüber der großen Mehrheitsgesellschaft, die dieses esoterische Geheimwissen noch nicht erkannt hat, abgrenzt. So werden die Anhänger der Esoterik in eine exklusive Gemeinschaft, die die Wahrheit erkannt hat, eingemeindet.

In den allermeisten Fällen stellen sie sich vor, dass dieses Geheimwissen unterdrückt wird, sei es von Pharmalobbyisten, „der Wissenschaft“ oder von größeren Weltkonzernen. Es gibt angeblich Personen, die verhindern, dass alle von dem Geheimwissen profitieren und gegen die muss man in einer Art esoterischen Aufklärung vorgehen. Man sieht, dass es hier eine Offenheit für Verschwörungsdenken gibt.

Dahinter steckt ein dualistisches Weltbild. Das heißt, es wird von einer guten und einer schlechten beziehungsweise boshaften Seite ausgegangen. Dieser Dualismus Gut gegen Böse, auch Manichäismus genannt, ist ein Element von antisemitischen und rassistischen Weltbildern.

Wenn man sich also vorstellt, es gäbe eine Verschwörung durch eine kleine boshafte Gruppe, wie zum Beispiel die Pharmalobby, besteht zumindest eine gewisse Gemeinsamkeit zum Antisemitismus. Da stellt man sich vor, hinter der Verschwörung stecke eine kleine jüdische Gruppe. Sehr viele Verschwörungstheorien sind jüdisch codiert, indem zum Beispiel jüdische Einzelpersonen oder Familien verantwortlich gemacht werden. Man sagt nicht mehr „die Juden“, weil das nach dem Holocaust nicht mehr so einfach möglich ist, ohne mit Konsequenzen rechnen zu müssen.

Insofern führt ein gewisser Weg von dem, was man so als Esoterik allgemein bezeichnen würde, dieses Geheimwissen, zu einem antisemitischen Weltbild. Daran knüpfen Autoren wie „Jan van Helsing“ oder die Anastasia-Bewegung an.

Hängen alle Menschen, die sich für Esoterik interessieren, solchen Verschwörungstheorien an?

Nein, das würde ich nicht sagen. Viele Menschen sind Anhänger esoterischer Praktiken und glauben nicht an solche Verschwörungstheorien. Es ist aber eine schiefe Bahn, die man betritt. Wenn man sich weiter auf diese Art zu denken und sich die Welt zu erklären einlässt, ist man zumindest bedroht von einer Dynamik erfasst zu werden, die auch in antisemitisches und rassistisches Denken führen kann. Deswegen sollte man sich dieser Dynamik und diesen strukturellen Gemeinsamkeiten bewusst sein, wenn man sich mit Esoterik beschäftigt. Natürlich sollte man sich auch gegen alle Formen von Antisemitismus, wie zum Beispiel bei der Anastasia-Bewegung, aussprechen. Auf der Messe lagen deren Bücher einfach so neben anderen Messeständen. Das zeigt diese Dynamik und ist sehr problematisch.

Artha hat neben den offen antisemitischen und rassistischen Büchern ein sehr breites Spektrum an Themen im Angebot. Von Kochen, Yoga und Selbsthilfe über Homöopathie, Reiki und Quantenheilung bis hin zu Telepathie, UFOs und Corona-Verschwörungen. Ab welchem Punkt wird es da gefährlich?

Man sieht, wie unterschiedlich sich die Esoterik mal hier bedient, mal da bedient, mal bei Religionen, mal bei bestimmten Verschwörungstheorien oder alternativen Medizinansätzen. Überall wird mal hier was genommen, mal da was genommen und dann landet man am Ende beim Antisemitismus und fragt sich: Ja, wie ist das denn jetzt eigentlich passiert?

Ich würde dazu anregen, sich dieser Beziehung von Esoterik und Verschwörungstheorien und dann im nächsten Schritt antisemitischen und rassistischen Erklärungen, wie die Gesellschaft und die Welt funktioniert, bewusst zu sein. Man muss sich angucken, was die Welterklärung hinter bestimmten esoterischen Methoden oder Heilangeboten ist. Wie erklären die Leute sich eine Gesellschaft? Wie erklären sie sich die Welt? Wenn diese Erklärunge eine verschwörungstheoretische ist – da ist so eine kleine Gruppe, die boshaft agiert und wir sind die kleine Gemeinschaft, die die Wahrheit erkannt hat, dann sollte man da Abstand von nehmen. Das ist eine allgemeine Herangehensweise, die ich Leuten empfehlen würde, die für Esoterik offen sind.

Ich kann nur empfehlen sich weiterzubilden. Einen ersten Zugang bietet eine Broschüre der Kölnischen Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit, die man online herunterladen kann. Darin findet man Interviews zu Esoterik und auch mit Leuten, die der Anastasia-Bewegung angehört haben. Das bietet einen guten ersten Überlick zu dem Thema.

Laut Veranstalter wird die EinsSein-Messe ihre AGB anpassen und Artha dürfe die genannten Bücher nicht mehr auf der Messe verkaufen. Reichen diese Maßnahmen ihrer Meinung nach?

Das ist zumindest ein erster richtiger Schritt. Ob das ausreicht, wird man sehen müssen. Die Affinität von verschiedenen esoterischen Theorien zu Antisemitismus und Rassismus können die AGB allein nicht auflösen. Dann müsste die Messe wahrscheinlich zahlreiche Publikationen und Vorträge verbieten.